Zeitgedanken 6

  1. Eine Nacht geht, ein Tag kommt,
    im Dunkel so friedlich, bei Lichte zerbombt.

    2. Heimlich, nur flüsternd hört man die Menschen, die ihre Häuser verlassen,
    damit sie ja nicht das Verschiffen der Boote verpassen.

    3. Leise und wimmernd ein Kind sich bewegt,
    zu spüren die Angst, die auf alle Fliehenden sich legt,
    weil Wellen und Wind die Boote schaukelt und dreht.

    4. Mit jedem Blick auf die Heimat zurück,
    verschwindet Vertrauen … Identitäten und Bindungen zerreißen – mit jedem Schritt,
    doch steigt auch die Hoffnung auf ein wenig Glück.

    5. Hoffnung, die sich teuer erkauft,
    ohne zu wissen, ob man ihr glaubt,
    weil oft das letzte Hab und Gut,
    in den schmierigen Händen der Schlepper ruht.

    6. Was soll nun werden, wird so mancher sich fragen,
    werden wir durchkommen oder werden wir sterben?

    7. Das Meer scheint unendlich und ewig zu sein,
    ohne irgendwo ein Hauch von Land in Sicht,
    wo beginnt wohl das Dunkel und wo wohl das Licht.

    8. Denn in sinkenden Booten sind alle gleich,
    egal, ob studiert oder nicht, ob arm oder reich.

    9. Sie alle kann das gleiche Schicksal ereilen,
    im Meer zu sterben oder später …
    an den Folgen der Flucht, des Erlebten zu leiden.

    10. Und dennoch nehmen sie die Gefahren auf sich,
    aus dem Leben, das sie kannten, auszubrechen,
    Wie groß muss die Not sein für Seele und Leib,
    wenn es sie trotz des Todes vor Augen – auf das Meer hinaustreibt.

    Kerstin Kant, 08. 2018 – In Düsseldorf begonnen, in Marrakesch beendet.

    Entstanden durch die Erzählungen in meiner Arbeit mit Menschen aus Flucht und Kriegsgebieten.
    Es ist den Seenotrettern gewidmet, die trotz der Ignoranz diverser Länder Europas auf das Mittelmeer hinausfahren, um kostbares Menschenleben zu retten.